SVe Gabriele Steck-Bromme: (…) Ich bin als Strafverteidigerin tätig und in den letzten Jahren zunehmend auch mit dem Maßregelvollzug befasst. Ich habe das ist jetzt nicht repräsentativ diverse Feststellungen treffen können und muss feststellen, dass sich im Maßregelvollzug eindeutig zu viele Menschen befinden.
Auf der Suche nach den Gründen fallen zwei Umstände besonders auf. Die erste Auffälligkeit ist: Wenn die Anstalten selbst gefragt werden, wollen sie so gut wie immer ihre Patienten behalten und plädieren für die Fortdauer der Unterbringung. Es gibt auch Ausnahmen, z.B. die Anstalt von Herrn Professor Dr. Müller-Isberner. Dort äußert man sich sehr differenziert. Aber sonst höre und lese ich ständig, der Patient soll bleiben und die Qualität der anstaltseigenen Gutachten und der Stellungnahmen ist dabei fast immer äußerst dürftig.
Die zweite Auffälligkeit: Bei den anstaltsfremden Sachverständigen gibt es unglaubliche Unterschiede in der Quote ihrer Empfehlungen. Da sind z.B. in Hessen und Rheinland-Pfalz zwei Sachverständige, die von den Gerichten und Staatsanwaltschaften gern und oft beauftragt werden. Von keinem dieser Sachverständigen habe ich je ein Gutachten gelesen, in dem die Voraussetzungen für die Unterbringung verneint wurden.
Das scheint mir höchst erstaunlich und bedenklich, entsprechend sind diese Gutachten äußerst fragwürdig. Bei anderen
Sachverständigen ist das ganz anders. Von den letzten 31 externen Gutachten in meiner Praxis plädierten immerhin zwölf auf Entlassung. Das sind fast 40 %.
Wie kann es sein, dass bei einigen Sachverständigen alle drin bleiben müssen und bei anderen ein großer Teil der Untergebrachten entlassen werden kann? Seit Anfang 2005 hatte ich 45 Anhörungsverfahren. Dabei haben sich nicht weniger als zwölf Mandanten als Fehleinweisung herausgestellt. Ein Viertel aller angehörten Mandanten hätten also niemals im Maßregelvollzug untergebracht werden dürfen.
Die Anstalten wollten sie aber trotzdem behalten. Nach meiner Erfahrung und Überzeugung sitzt nur ein kleiner Bruchteil der Untergebrachten zu Recht ein. Es gibt bei sehr vielen Untergebrachten weit weniger belastende Maßnahmen, z.B. betreutes Wohnen oder eine ambulante Nachsorge, wie sie wohl auch in Hessen
22
sehr beispielhaft aufgebaut worden ist. Das bedeutet erstens, viele Menschen sitzen zu Unrecht in der Unterbringung und zweitens, wer das ändern will, braucht qualifizierte Gutachten.
Die Entscheidung darüber trifft allerdings die Justiz. Sie kann und darf die Verantwortung nicht auf die Gutachter abschieben. Die Justiz nimmt in unendlich vielen Fällen unqualifizierte Arbeit von Sachverständigen einfach hin. Das ist das zentrale Problem. Wenn die Justiz sachkundig und kritisch mit Gutachten umgeht, erledigt sich meiner Meinung nach das Problem der Überbelegung zum
großen Teil von selbst. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen berühren dieses Problem leider mit keinem Wort. Sie erfordern im Gegenteil eher noch mehr Gutachten.
Das Qualitätsproblem würde sich verschärfen. Die beteiligten Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter müssen einfach sachkundiger an diese schwierigen Fragen herangehen. Das ist weitaus wirksamer als Gesetzesänderungen, die eine Vielzahl neuer Fragen und Probleme mit sich bringen.
Prof. Nedopil, München: Lange Unterbringungsdauern in Bayern politisch gewollt (S. 30) bit.ly/Wldq6L #Mollath
SV Prof. Dr. Norbert Nedopil: Die Frage war nach den Gründen für die Überbelegung und den möglichen Abhilfen. Grund für die Überbelegung ist zunächst mal die zunehmende Einweisungshäufigkeit. Von 1996 bis 2005 hat sich die Zahl der Einweisungen nahezu verdoppelt. Das ist dramatisch, sowohl hinsichtlich § 63 StGB als auch hinsichtlich § 64 StGB. Warum das so ist, darüber kann man viel diskutieren.
Wir sind ursprünglich davon ausgegangen, dass die drohende oder die leichtere Einweisung in die Sicherungsverwahrung ein Faktor ist, wonach der Maßregelvollzug sozusagen als weichere Form der Sicherungsverwahrung angesehen wird. Das könnte zu einer Zunahme geführt haben. Das zweite ist, und da würde ich Frau Steck-Bromme durchaus Recht geben, dass die Zahl der Gutachter, die sich kompetent gegen Drucksituationen wehren können, nicht allzu groß ist. Da liegt es nahe zu sagen, wir müssen den länger unterbringen. Ich habe das auch vielfach vor Gericht schon erlebt, dass es heißt, da müssen wir doch etwas tun, wäre da nicht der Maßregelvollzug die richtige Maßnahme. Also es gibt da durchaus Druck. Denken Sie nur an das Kannibalen-Verfahren.
Da war auch der Druck: Der muss doch in den Maßregelvollzug. Unabhängig von jeder Sachkompetenz. Ich habe den Kannibalen nicht begutachtet, ich kann nicht sagen, ob er da wirklich hingehört. Also, das ist einer der Gründe. Der zweite Grund sind die
verlängerten Unterbringungsdauern. In allen Bundesländern, mit Ausnahme Hessens
30
und Baden-Württembergs, hat es Verlängerungen gegeben. In Niedersachsen war die Verlängerung von ungefähr vier auf im Schnitt 6,7 Jahre. Ob das in Bayern ähnlich wie in den anderen Bundesländern ist, habe ich jetzt nicht im Kopf. Also verlängerte Unterbringungsdauer, das ist der zweite der beiden Hauptfaktoren, die zu dieser dramatischen Zunahme der Unterbringungen im Maßregelvollzug geführt haben.
Die Abhilfe sehe ich in Zweierlei. Erstens wäre durch eine kompetentere Begutachtung zur Einweisung und eine Begrenzung der Einweisung in den Maßregelvollzug auf diejenigen, die wirklich erheblich gestört sind, und die aufgrund dieser Störung und nicht aufgrund irgendwelcher anderer Phänomene rückfällig zu werden drohen, eine Selektion derjenigen, die in den Maßregelvollzug kommen, zu gewährleisten. Das ist versucht worden; da gab es 2005 durchaus Bestrebungen oder auch Mindestanforderungen an Schuldfähigkeitsbegutachtungen, wonach man die Richtlinien über die Anwendung der §§ 20 und 21 StGB relativ klar angelegt hat.
Das wäre eine Schiene, auf der man den Zulauf in den Maßregelvollzug etwas begrenzen könnte. Die langen Unterbringungsdauern sind ja nun, ich würde mal so sagen politisch gewollt, zumindest in manchen Bundesländern. Und da ist es sehr viel schwerer, etwas zu machen. Praktisch und aus Sicht des Maßregelvollzugs wäre etwas zu erreichen, wenn man die ambulante Nachsorge erheblich verbessern und hierfür auch das Instrumentarium schaffen würde, wie es zum Teil im neuen Gesetzentwurf zur Führungsaufsicht enthalten ist. Hier kann man Interventionen nach einer Entlassung besser regeln.
Hier ist auch zum ersten Mal der Begriff der forensischen Ambulanz in ein Gesetz geschrieben worden. Die forensische Ambulanz ist nicht das Allheilmittel, aber eine wesentliche Hilfestellung für Menschen, bei denen man nicht diese hohe prognostische Sicherheit hat, die heute in § 67 d StGB und vor allem im Verbindung mit § 463 StPO gefordert wird, indem man die Bedingungen vorschreibt, für die diese Prognose gilt. Dann kann man durchaus früher entlassen und damit die Unterbringungsdauern reduzieren. Beide
Maßnahmen sind aus meiner Sicht dazu angetan, die Zahl der Untergebrachten zurückzuführen, wenn auch vielleicht nicht auf das Maß von 1996, aber jedenfalls unter das hohe Maß, auf dem wir jetzt sind.
———————–
Justizirrtum Falschbeschuldigung: Man lernt nur die kennen die es überleben, resilient sind #mollath #schmelzer sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen
18. Dezember 2012 um 18:25 Uhr
Ich habe vor langer Zeit
in einer privat betriebenen Psychiatrie gearbeit.Es gab dort eine Station mit sogenannten chronischen pflegeleichten Fällen welche dort für immer untergebracht und teilweise entmündigt waren. Einige von ihnen hätten ohne weiteres auch auserhalb dieser Anstalt leben können.
Das fiel auch einer neu eingestellten Ärztin auf und sie begann nach Dienstschluß diese Fälle zu untersuchen. Als die Leitung davon erfuhr, wurde sie sofort entlassen, schlieslich verdiente man an dieser Station ohne besondere Leistungen erbringen zu müssen.
Das zum Unterschied zu der mehr politisch motivierter längerer Unterbringung wie oben beschrieben. Aber vielleicht spielen auch da finanzielle Interessen mit, damit die Plätze belegt sind.
19. Dezember 2012 um 10:37 Uhr
Zum Glück vieler Patienten gab es dann die Entwicklung, dass betreute Wohngemeinschaften billiger wurden als die Anstalts- Unterbringung, so wurden die großen Schlafsäle in den 80er Jahren in Haar bei München aufgelöst.
Die derzeitigen Überbelegungen durch zu viele Einweisungen werden eine neue Art der Lösung brauchen: Entweder mit mehr Geld oder mit anderen kreativen Möglichkeiten.